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Impuls zum 21. Februar 2021

Zum 7. Sonntag im Jahreskreis

Von Monika Bossung-Winkler, Diözesanverband Speyer

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Ps 31,9)

Das diesjährige MISEREOR-Hungertuch und aktive Gewaltfreiheit
Verwirrte Linien – schwarze und braune Flecken – goldene Blüten. Das diesjährige Hungertuch von MISEREOR gibt Rätsel auf. Beim näheren Hinsehen erkennt man einen Fuß. Was hat ein Fuß mit der Fastenzeit zu tun? Was mit Gerechtigkeit? Mit Frieden?

Ich bin von dem Hungertuch beeindruckt. Seine Geschichte verursacht mir Gänsehaut. Es ist nicht irgendein Fuß. Die Künstlerin Lilian Moreno Sánchez hat das Röntgenbild eines mehrfach gebrochenen Fußes als Vorlage genommen. Moreno Sánchez stammt aus Chile. Die Flecken sind Staub und Schmutz von der „Plaza Italia“ im Herzen von Santiago. Die „Plaza Italia“ erhielt im Oktober 2019 einen neuen Namen: „Plaza de la Dignidad“ – Platz der Würde.

Die Geschichte des Fußes
Chile – bei diesem Namen kommen den langjährigen Aktiven der Friedensbewegung Erinnerung: Salvador Allende, die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft; Augusto Pinochet – eine der längsten und brutalsten Militärdiktaturen Südamerikas; Servicio Paz y Justicia (Dienst für Frieden und Gerechtigkeit) – ein langjähriger Projektpartner von pax christi.

Als ich den Fuß sah, musste ich an meine eigenen Wege durch Santiago im Dezember 1989 und Januar 1990 denken. Pinochet hatte ein Jahr vorher eine Volksabstimmung verloren und musste freie Wahlen ansetzen – der Diktator wurde abgewählt. Aber auch in den Tagen danach wurden Demonstrationen noch von Wasserwerfern aufgelöst und mehrmals spürte ich auch das Kratzen in Augen und Hals, das von Tränengas verursacht wird.
2019, 30 Jahre nach Ende der Diktatur, ist Chile ein wirtschaftliches Vorbildland. Es wird unter die hoch entwickelten Länder gerechnet, Hilfswerke sind dort nicht mehr tätig. Doch die soziale Ungleichheit ist enorm hoch, informelle Arbeit weiterhin an der Tagesordnung. Fast alle Schulen sind kostenpflichtig, die Krankenversicherung weitgehend privatisiert.

Santiago hat die modernste Metro Südamerikas und transportiert jeden Tag Menschenmassen – auch Schüler*innen und Studierende. Eine Fahrpreiserhöhung im Oktober 2019 von 30 Pesos pro Ticket (umgerechnet 4 Cents) lässt die Situation explodieren. Zu Tausenden gehen vor allem junge Menschen auf die Straße – sie fordern eine Rücknahme der Preiserhöhungen und umfassende soziale Maßnahmen für benachteiligte Bevölkerungsgruppen. „Es geht nicht nur um die 30 Pesos, sondern es geht um 30 Jahre Machtmissbrauch", sagt eine junge Studentin.

Die Proteste sind zunächst friedlich, junge Menschen füllen die „Plaza Italia“. Die Polizei reagiert mit Gummiknüppeln und Wasserwerfern, bald wird auch das Militär eingesetzt. Bilder von Polizeigewalt erscheinen in den sozialen Medien, u.a. das Video einer jungen Frau mit Bauchschuss. Die Situation eskaliert. Einige Metrostationen werden in Brand gesetzt, einige Supermärkte geplündert. In den offiziellen Medien werden die Jugendlichen als Randalierer dargestellt, obwohl die meisten friedlich protestiert haben. Am 28. Oktober berichtet Amnesty International von 18 Toten und 584 Verletzten, darunter 254, die von Schüssen getroffen wurden.

Ein Opfer der Gewalt von Polizei und Militär erlitt mehrere Brüche am Fuß. Wem der Fuß auf dem Hungertuch gehört, wissen wir nicht. Die Künstlerin wollte selbst den Namen nicht erfahren, denn der Fuß ist nur ein Symbol für die vielen Menschen, die „aufstanden“ gegen Ungerechtigkeit und dabei Gewalt erfahren mussten. Sie zeichnete den Fuß nach einem Röntgenbild, das der behandelnde Arzt ihr zu Verfügung stellte.

Ps 31
2 HERR, bei dir habe ich mich geborgen. /
Lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit; *
rette mich in deiner Gerechtigkeit!
3 Neige dein Ohr mir zu, erlöse mich eilends! *
Sei mir ein schützender Fels, /
ein festes Haus, mich zu retten!
4 Denn du bist mein Fels und meine Festung; *
um deines Namens willen wirst du mich führen und leiten.
5 Du wirst mich befreien /
aus dem Netz, das sie mir heimlich legten; *
denn du bist meine Zuflucht.
6 In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist; *
du hast mich erlöst, HERR, du Gott der Treue.
7 Verhasst waren mir, die nichtige Götzen verehren, *
ich setze auf den HERRN mein Vertrauen.
8 Ich will jubeln und deiner Huld mich freuen; *
denn du hast mein Elend angesehn, /
du kanntest die Ängste meiner Seele.
9 Du hast mich nicht preisgegeben der Hand meines Feindes, *
du stelltest meine Füße in weiten Raum.

Der Träger des Fußes hat selbst Bedrängnis und Rettung erfahren. Vielleicht wurde der Fuß von einem Knüppel zertrümmert oder von einem Wasserwerfer überfahren. Sicher konnte er sich nicht selbst in Sicherheit bringen, sondern wurde von seinen Freunden weggebracht. Dabei waren sie wahrscheinlich selbst in Gefahr, aber sie gaben den Verletzten „nicht der Hand der Feinde preis“.

Der mehrfach gebrochene Fuß hat eine lange Behandlungszeit erlebt, danach erste Schritte unter Schmerzen, bis er wieder richtig gehen konnte. Aber irgendwann konnte er auch wieder weite Schritte machen. Diese Zeit des Heilens wird im Bild durch die Bettwäsche eines Krankenhauses dargestellt, auf die der Fuß gezeichnet ist.
Die Plaza Italia, auf der die Proteste in Santiago stattfanden, wurde in Platz der Würde umbenannt. Ihr Staub ist in das Tuch eingearbeitet. Die Blüten sind in der Bettwäsche eines Klosters abgebildet, die ebenfalls für das Hungertuch verwendet wurde. Sie drücken die Hoffnung aus, dass auch in Not, Leid und Schmerzen, Neues entstehen kann. Sie brechen auf, wie wir das ja gerade im Frühjahr wieder erleben.

Trotz der gezielten Presseberichte über „jugendliche Randalierer“ musste die Regierung anerkennen, dass die Forderungen berechtigt und die Proteste weitgehend gewaltfrei waren. Die Fahrpreiserhöhungen wurden schließlich zurückgenommen und wichtige soziale Maßnahmen, wie beispielsweise die Erhöhung von Grundrente und Mindesteinkommen beschlossen.

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ – der junge Träger des Fußes kann Schritte in die Zukunft gehen. Er kann weiter die Schule besuchen oder sein Studium abschließen. Er hat die Erfahrung gemacht, dass ein Aufstand für Gerechtigkeit sich lohnt, auch wenn er selbst verletzt wurde. 

Gebet für Chile
Guter Gott, in Chile sind Menschen aufgestanden und haben gegen Unrecht und soziale Ausgrenzung protestiert. 
Sie wurden mit massiver Gewalt konfrontiert, haben aber trotzdem nicht aufgegeben.
Sie sind eingetreten für ihre Würde.
Stärke die jungen Menschen, die 2019 zum ersten Mal politisch aktiv wurden. 
Begleite sie in ihrer Ausbildung, ihrem Studium, bei ihrer Berufswahl. 
Lass sie die Erfahrung von Solidarität und gewaltfreiem Aufstand nicht vergessen. 
Leite sie bei der Gestaltung der Zukunft ihres Landes. 
Gib du ihren Füßen weiten Raum in eine Zukunft der sozialen Gerechtigkeit. 
Amen.