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Impuls zum 24. Januar 2021

Zum 3. Sonntag im Jahreskreis

Von Klaus Hagedorn, Oldenburg, pax christi Diözesanverband Münster

Impuls zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ am 27. Januar 2021 

Ein Wort zuvor
Gerade hat das neue Jahr begonnen. Und die Corona-Krise nötigt dazu, uns wiederum neue Kontaktbeschränkungen aufzuerlegen. Wir erfahren: das Zuhören, das einander Beistehen, das Dasein füreinander ist ein kostbares Geschenk, das wir erhalten und weitergeben können. Wir sind soziale Wesen, angewiesen auf Kommunikation, auf Sprechen und Zuhören, auf Berühren und Berührtwerden, auf offene Sinne anderer gerade dann, wenn Einsamkeit plagt, wenn häusliche Isolation erdrückt, wenn Pandemie-Home-Office Beziehung und Familie zerreißt, wenn Besuche schmerzlich vermisst werden, wenn Sorgen groß werden, weil Covid zuschlägt oder man um seine Arbeit bangt u.v.a.m. Vieles, wonach wir uns sehnen, kann derzeit nicht sein oder nur anders sein. 

Gerade in Zeiten, in denen das Dunkle und Schwere sich so oft so stark aufdrängt, ist es wichtig wahrzunehmen, wofür wir trotzdem dankbar sein können. Deshalb nehme ich mir an jedem Abend vor, im Rückblick auf den Tag drei Dinge zum Danken zu finden – nicht mehr und nicht weniger – Erfahrungen, Entdeckungen, Erkenntnisse oder Begegnungen vom Tag - diesen nachzugehen, bei ihnen kurz zu verweilen, für sie zu danken. – trotz vielem, in vielem und vielem zum Trotz.
„Er“ ist auch wieder da!"
Und dann ist in dieser 4. Kalenderwoche am Mittwoch, dem 27. Januar 2021, „er“ wieder da: der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Ein Denk-Tag: Gedenken und Nachdenken über die Vergangenheit – wegen Orientierung für die Zukunft!  „Nie wieder!“ – Das ist die Botschaft, die auch in Zeiten der Pandemie im Blick zu halten ist. Ich finde: In allem und trotz allem haben wir über den Tellerrand unserer pandemisch geprägten Alltage zu schauen. Darin liegt auch Verantwortung, die bleibt. 

Dieser 27. Januar ist nicht nur ein Tag des trauervollen Rückblicks in die NS-Vergangenheit. Er ist auch ein Tag des sorgenvollen Blicks in die Gegenwart. Oft gesagt: Nie wieder? Und doch zu sehen: Schon wieder! Immer noch. Dieser Tag erinnert an die Befreiung des KZ Auschwitz am 27.1.1945. Er erinnert daran, dass der Weg zu unserem Grundgesetz durch die Hölle der Konzentrationslager führte. Er erinnert an die Ausrottung der Menschlichkeit, daran, wie aus der Humanität Nationalität und aus der Nationalität Bestialität wurde. Er macht hoffentlich unruhig, weil Nationalismus sich schon wieder aufbläht: bei uns und anderswo. Er erinnert daran, dass es Kräfte in unserem Land gibt, die jene Bestialität als „Vogelschiss in 1.000 Jahren deutscher Geschichte“ bezeichnen – und die nicht den Holocaust, sondern das Denkmal dafür als „Schande“ bezeichnen. Kein Gedenken garantiert Umkehr dauerhaft. Respekt, Aufklärung, Achtung von Minderheiten, recht verstandene Toleranz: das alles ist nie sicher; das alles ist zu lernen, immer und immer wieder neu. 

Wenn wir nicht erinnern, sondern auf stille Weise einstimmen in ein Verdrängen und Vergessen: Wir würden verraten – neu. Die Erinnerung an alles Leben und Leiden, die Memoria passionis, zeichnet uns als Christ*innen aus. Wir setzen dabei darauf, dass jeder Mensch dieser Erde eine Würde hat, die nicht zu nehmen ist, die von Gott gegeben ist „vor aller Zeit“ – „auf immer und ewig“. Wir setzen darauf, dass Gott einen jeden Menschen „mit Namen gerufen hat“, wie der Prophet Jesaja es ausdrückt. Gras über Unrechtsgeschichte wachsen zu lassen, führt dazu, dass die Opfer und die Ermordeten um das einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann: das Gedächtnis. 

Gegen Vergessen
Ich will mich erinnern
Dass ich nicht vergessen will
Denn ich will als Mensch unter Menschen treu sein

Ich will mich erinnern
Dass ich vergessen will
Denn ich will nicht zu viel leiden

Ich will mich erinnern
Dass ich nicht vergessen will
Denn ich will mich kennen

Denn ich kann nicht denken
Ohne mich zu erinnern
Denn ich kann mich nicht orientieren
Ohne mich zu erinnern

Denn ich kann nicht wollen
Ohne mich zu erinnern
Denn ich kann nicht lieben
Denn ich kann nicht hoffen
Denn ich kann mich nicht versöhnen
Ohne mich zu erinnern

Ich will mich erinnern
An alles was man vergisst
Denn ich kann nicht retten
Ohne mich zu erinnern
Mich selbst nicht und jene nicht
Die nach mir kommen

Ich will mich erinnern
An die Vergangenheit und Zukunft
Und will nüchtern und wachsam
Sensibel und einfühlsam
Im HEUTE leben

Eine Erinnerung aus dem Ersten Testament: Jesaja 43,1-5
Aber nun spricht Gott so: 
ich habe dich geschaffen, Jakob, und dich gebildet, Israel: 
Hab keine Angst, denn ich habe dich befreit, 
ich habe deinen Namen gerufen, zu mir gehörst du. 
Wenn du durch Wasser gehst, bin ich bei dir, 
und Wasserströme überfluten dich nicht. 
Wenn du durch Feuer gehst, verbrennst du nicht, 
und die Flamme versengt dich nicht.
Denn ich bin Gott, deine Gottheit, heilig in Israel, dir zur Rettung.
… weil du in meinen Augen teuer bist, du mir wichtig bist und ich dich liebe…
Hab keine Angst, denn ich bin bei dir.

Erinnerung wachhalten
Es gibt Eindrücke, die lassen sich nicht wegdrücken. Vor einigen Jahren war ich zum ersten Mal in Israel-Palästina, auch in Yad VaSchem in Jerusalem. Die Gedenkstätte an den Holocaust ist eindrücklich. Der Besuch geht mir bis heute nach. Vor allem der Raum, in dem der 1,6 Millionen ermordeter Kinder gedacht wird. Er ist mir unter die Haut gegangen. Eine Fülle von Lichtreflexen, ausgelöst von sechs immer wieder sich spiegelnden Kerzen (je eine für jede Million ermordeter Juden), dazwischen die Bilder einzelner Kinder. Ihre Namen werden genannt und die wichtigsten Lebensdaten. Bis heute wird immer noch nach einzelnen Namen geforscht. Die sollen nicht in Vergessenheit geraten, die will man auf jeden Fall in Erinnerung behalten.  „Verweigerte Erinnerung ist Mord“, sagt ein jüdisches Sprichwort. Nicht zu erinnern: Das wäre ein erneuter Mord – an den Ermordeten. 

Yad VaSchem - zu  Deutsch: Hand und Name. Ein Namensmal! „Ich habe dich beim Namen gerufen; du gehörst mir.“ (Jes 43,2) - „Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.“ (Jes 49,16) - „Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals ausgetilgt wird.“ (Jes 56,5) Im Jesaja-Buch ist Erinnerung unaufgebbar, unbedingt, existentiell. 

Heute gibt es einen Trend, Namen möglichst auszulöschen – durch Vergessen, die Opfer gerade nicht in Erinnerung zu halten. „Man muss uns diese zwölf Jahre jetzt nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr. Und das sprechen wir auch aus… Sie sind nur ein Vogelschiss in 1000 Jahren deutscher Geschichte“, so und ähnlich tönt neobrauner Ungeist. 

Seit sich die Bundesrepublik an den Völkermord an den Juden erinnert, seitdem wird diese Erinnerung immer auch für schandbar, ungesund oder jedenfalls übertrieben angesehen. Solche Leute denken: Die Erinnerung an das nationalsozialistische Erbe führe dazu, dass Deutschland nie wieder normal werden kann. Also muss mit Erinnerung endlich Schluss gemacht werden, damit wir normal werden können. Aber: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, den kann es die Zukunft kosten!“ Eine weitere jüdische Weisheit.

Sehr bald werden die letzten Überlebenden von Auschwitz gestorben sein. Und nicht nur sie verstummen, sondern überhaupt alle Zeitzeugen: Opfer, Verbrecher, Mitläufer, Unbeteiligte, Widerständler. Wer künftig aufwächst, wird niemanden mehr kennenlernen, der aus eigener Erfahrung sprechen kann. 

Die Frage stellt sich bedrängend, wie eine Vergangenheit gegenwärtig bleiben kann, wenn biographische Bezüge sich allmählich auflösen. Es wird eine schwierige Aufgabe sein, Auschwitz nicht nur als Menschheitsverbrechen in der Geschichte zu begreifen, sondern vielmehr als Verantwortung für uns heute. 
Gedenken braucht immer Rituale, Mahnmale, Jahrestage, Bilder und Sprache, die ins Wort setzt, um zu bilden und zu bewahren. Was, wenn all solches als leer empfunden wird, weil Referenzpunkte in der eigenen Biografie fehlen? Was, wenn nur gefragt wird: Was kümmern uns die Toten? Wir haben mit den Problemen der Lebenden genug zu tun!

Mir begegnen solche Fragen. Was sagen? Ich antworte mit Gegenfragen. Können wir wirklich so leicht über die Toten hinweg zur Tagesordnung übergehen? Uns Lebende und unsere Probleme in Ehren: Was ist mit den vor uns Gewesenen? Gehören sie nicht zu uns? Was ist mit den spurlos Verschwundenen, deren Namen nirgendwo festgehalten sind? Was ist mit denen, die vom Tod weggerafft wurden, bevor sie bedenken konnten, was aus ihrem Leben hätte werden können? Was ist mit denen, die einfach liquidiert wurden, die für nichts und wieder nichts gestorben sind?  Alle hoffnungslos tot?

Was ist das für ein Sinn, der nur Lebenden gegeben ist oder nur in der Zukunft zu finden ist, der nicht wirklich allen gilt, die das Licht der Welt und ihre Dunkelheit erblickt haben? Können wir unserem Leben einen Sinn zusprechen, wenn wir ihn den Toten versagen? Was wird das für eine Gesellschaft, die mit dem Rücken zu den Toten ihr Glück genießt? Schreitet da im Vergessen der Toten nicht die Unmenschlichkeit fort?

Unser Zeitgeist betont oft nachdrücklich, dass der Tod das Leben endgültig abschließt. Deshalb wohl nicht selten als Lebenshaltung: „Nach mir die Sintflut!“ Es stimmt: Tod schließt Leben ab. Ist das aber die ganze Wahrheit? Wir machen doch auch eine andere Erfahrung, dass ein Leben offenbleibt und sich auswirkt, dass es mit dem Tod nicht einfach zu Ende ist. Komponisten, Dichter, Bauleute, Wissenschaftler, Maler, Sänger, Politiker, Religiöse – Frauen und Männer aus allen Lebensbereichen, aus unseren Familien: Was sie eingebracht haben mit ihrem Leben, wirkt weiter und nach, prägt doch unsere Geschichte.

Zu unserem Leben gehört aber auch das Leben der vielen Namenlosen. Das stellt sich uns als Aufgabe, die wir -als Menschen- ihre Nachfahren sind. Es wirkt sich aus in der Erinnerung, im Gedenken ihres Leidens, das uns in die Pflicht nimmt, im Tun des Guten, das offen und liegengeblieben ist. „Hast Du Freunde unter den Toten?“ hat Max Frisch mehrfach seine Leser*innen gefragt.

Das Gedenken am 27. Januar bedeutet: mit den Opfern des Nationalsozialismus zu leben. Das Gedenken bringt uns unsere Grenzen in Erinnerung; es zeigt uns, wie unsinnig vieles ist, wie gewalttätig und unmenschlich – und wie wir uns doch davor scheuen, Gewalt wirklich anzuschauen. Christlicher Glaube hat immer auch mit Gewaltanschauung zu tun. Wir haben als Zeichen das Kreuz und berufen uns auf einen Durchbohrten!
Yad VaSchem – ein Namensmal. Der Name ist eine Gabe Gottes. Wir haben allen Grund, ihn heilig zu halten: Gottes Namen und in Gottes Namen unsere Namen und die der Vielen. „Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände“, so der Prophet Jesaja (49,16) und weiter: „Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals, niemals ausgetilgt wird.“ (56,5) Und: „Ich habe deinen Namen gerufen, zu mir gehörst du.“ (43,2) Darauf will ich setzen. 

Nachklänge
Hilde Domin:  Bitte 

Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen, 
wir werden durchnäßt
bis auf die Herzhaut.

Der Wunsch nach der Landschaft
Diesseits der Tränengrenze
Taugt nicht,
der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten,
der Wunsch, verschont zu bleiben, 
taugt nicht.

Es taugt die Bitte,
daß bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe.
Daß die Frucht so bunt wie die Blüte sei,
daß noch die Blätter der Rosen am Boden
eine leuchtende Krone bilden.

Und daß wir aus der Flut,
daß wir aus der Löwengrube 
und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.

Ich stelle mich
Ich stelle mich
auf die Seite des Friedens
Ich stelle mich
auf die Seite der Opfer
Ich stelle mich nicht taub

Ich stelle mich zu denen
die nach Orientierung fragen
Ich stelle mich zu denen
die für mehr Gerechtigkeit
und Frieden eintreten

Ich stelle mich zu denen
die die Erinnerung wachhalten
Ich stelle mich zu denen
die meine Solidarität brauchen

Ich stelle mich zu denen
die den ersten Schritt tun
Ich stelle mich zu denen
die für die Zukunft kämpfen

Ich stelle mich
und stelle mich manchmal bloß
Ich stelle mich –
nicht immer ohne Scheu.
Daher bitte ich:
Gott, blicke auf mich

Ich stelle mich zu denen
die aus dem Geist Jesu leben
Ich glaube an die Kraft dieses Geistes
Daher bitte ich:
Gott, blicke auf mich.  AMEN