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Impuls zum 23. Juni 2024

Zum 12. Sonntag im Jahreskreis

Von Ferdinand Kerstiens (Marl), pax christi Münster

Sturm auf dem Meer
Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint.
Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre.
Ich glaube an Gott, auch wenn ich ihn nicht sehe.

Jüdische Inschrift im Warschauer Ghetto

Evangelium Mk 4,35-41
„An jenem Tag, als es Abend geworden war, sagte Jesus zu seinen Jüngern: Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren. Sie schickten die Leute fort und fuhren mit ihm in dem Boot, in dem er saß, weg; einige andere Boote begleiteten ihn. Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, und die Wellen schlugen in das Boot, so dass es sich mit Wasser zu füllen begann. Er aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief. Sie weckten ihn und riefen: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen? Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich, und es trat völlige Stille ein. Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben? Da ergriff sie große Furcht, und sie sagten zueinander: Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen?“

Vor mir habe ich noch die Bilder vom Hochwasser im Süden Deutschlands. Die Gewalt der Wassermassen riss alles mit. Plötzlich wurden Straßen zu wilden Bächen. Menschen standen hilflos daneben, während ihre Habe zerstört wurde. 

Der Sturm auf dem Meer, die aufgepeitschten Wasser – ein Bild für unser Leben. Manchmal fließt es ruhig dahin. Dann aber, vielleicht plötzlich und unerwartet, kommt der Sturm aus der Tiefe des eigenen Innern herauf. Verdrängte Ängste wollen ans Licht. Was verscharren wir nicht alles in unseren eigenen Abgründen, weil wir im Augenblick nicht damit leben können: Enttäuschungen mit Menschen, auch mit der Kirche, Verletzungen, Lebenshoffnungen, die sich nicht erfüllen, Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, die immer wieder scheitert, das nichtgelebte Leben, der eigene Schatten. Das alles ist nicht weg oder tot, wenn wir es in uns begraben haben, es drängt ans Licht, manchmal wie in Eruptionen eines Vulkans, der das Magma aus der Tiefe in die Welt hinausschleudert. Der See wird stürmisch, auf dem wir unser Lebensboot über Wasser halten wollen. Die Wogen drohen uns zu verschlingen.

Aber der Sturm kann auch von außen kommen, von Krankheiten und Unfällen, von Schicksalsschlägen, von Arbeitslosigkeit oder Krieg. Das erfahren wir gerade in der Ukraine und in Israel/Gaza. Menschen auf der Flucht, umhergetrieben ohne Nahrung, ohne Wasser. Die weltweite Ungerechtigkeit kann plötzlich über Menschen herfallen und sie zum Opfer machen. Dann gerät alles durcheinander. Die Angst vor der Zukunft bricht auf, die Angst, nicht fertig zu werden mit dem, was da plötzlich auftaucht, Angst zu scheitern, das eigene Ansehen zu verlieren. Die Angst überschwemmt uns. Es geht um unser Leben. Es geht um das Überleben in dieser Menschenwelt.

Der Sturm auf dem Meer: Die Jünger können nichts mehr tun. Sie haben nur Angst. Aller Sachverstand hilft nicht weiter. Das ist doch ihr See! Man könnte versucht sein, diese Situationen zu vermeiden, indem man das Boot im Hafen festmacht, den Anker fallen lässt und es gut vertäut. Oder man zieht es ganz aufs trockene und sichere Ufer. Aber dann kann es seine Funktion als Boot nicht erfüllen.

Manche versuchen das in ihrem Leben: Risiken vermeiden, sich nicht hervortrauen, damit man nicht auffällt; sich zurückziehen ins eigene Wohnzimmer, möglichst unauffällig irgendwo mitschwimmen - beim Gerede auf der Straße, im Betrieb, Wegblicken, Weghören, wenn Ausländer beschimpft werden, wenn jemanden Unrecht geschieht. Das kann vielleicht für eine Zeitlang gelingen. Aber dann passiert auch nichts in unserem Leben. Wir leben nicht selbst, wir lassen uns leben. Wir verlieren uns selbst, bis das ungelebte Leben in uns wieder ans Licht will. Dann kann ein Sturm auch die Chance sein, unser Leben wieder zu finden und neu in die eigenen Hände zu nehmen. 

Ähnliches haben wir ja in der Kirche erlebt: Sie lag lange festgetäut im Hafen. Da hat Johannes XXIII im Konzil die fesselnden Leinen losgemacht und die Fenster geöffnet. Ein neuer Pfingststurm sollte herein. Viele von uns haben diesen Pfingststurm als befreiend und ermutigend erfahren. Doch bei manchen – nicht nur im Rom - wächst die Angst, dass das Kirchenboot in diesem Sturm untergeht. So will man es wieder im Hafen fest vertäuen. Aber dann kann die Kirche ihren Auftrag nicht erfüllen: Im Vertrauen auf den Geist Gottes hinauszufahren auf die stürmische See unserer Zeit, um dort Zeugnis von der Frohen Botschaft zu geben.

Wir können die Botschaft des Evangeliums auch noch einmal durchbuchstabieren im Blick auf unsere Gesellschaft und Politik. Auch da blockiert Angst voreinander: Angst vor dem politischen Gegner oder „Freund“, vor den „Schurkenstaaten“, vor „der Achse des Bösen“, vor Putin, vor der Übermacht der anderen Seite, vor der nächsten Wahl, vor den Mächtigen in der Wirtschaft. Die Auseinandersetzungen werden immer härter, immer gewalttätiger. So werden vernünftige, menschennahe, friedliche Lösungen verzögert oder verhindert. Die Globalisierung, die Klimakrise verschlingt die „Boote“ ganzer Völker. Die Manager bringen ihr Schäfchen ins Trockene, die Politiker haben Angst, die Strukturen unserer Wirtschaftsunordnung zu ändern, so flicken sie eben. Angst führt dann leicht zu Resignation bei den Opfern oder zu Gewalt und Gegengewalt, und verhindert so die Versöhnung. Das gegenseitige Sich-Auflauern verhindert Gerechtigkeit. Das Misstrauen den anderen gegenüber verhindert den Frieden.

Mitten im Sturm, mitten im umher gewirbelten Boot schläft Jesus. Ärgerlich für die Jünger! Sieht er denn nicht ihre Not? Das Bild des schlafenden Jesus zeigt deutlicher als alles, dass er ohne Angst ist. Deswegen kann er auch etwas tun und die Wogen besänftigen. Wie oft scheint Jesus in unserem Lebensboot zu schlafen! Wo ist er? Wo ist Gott? Wo bleibt er? Hat er denn kein Mitgefühl mit unserer Not und Hilflosigkeit? Diese Fragen können sich verdichten: Gibt es ihn überhaupt? Was soll ein Gott, der sich nicht um uns kümmert? Jesus sagt zu den Jüngern: Ihr Kleingläubigen. Ich bin doch da. 

Diese Geschichte lädt uns ein, darauf zu vertrauen, dass Jesus da ist, mitten in unserem Leben, auch wenn er zu schlafen scheint. Jesus hält den Jüngern ihren Kleinglauben vor. Beim Glauben geht es also nicht um das Festhalten an vielen alten Sätzen und Vorstellungen, an kirchlichen Strukturen und Riten, sondern um das Vertrauen auf seine Nähe, auch wenn wir sie nicht spüren. Dieses Vertrauen weckt die Kraft, sich der Angst zu stellen und sich hinauszuwagen auf das Meer, in das Leben, sich weltwärts hinauszuwagen in Neues hinein, das noch unerkannt vor uns liegt. Das gilt für jede und jeden von uns in ihrem/seinem Leben mit den noch unentdeckten Möglichkeiten, die darin verborgen sind. Die Christinnen und Christen können dazu beitragen aus der Mitte ihres Glaubens heraus das Vertrauen in die Zukunft zu stärken und die Angst zu vermindern. Nur so können wir neue Wege finden und die nächsten Schritte gehen. Viele tun dies auf der ganzen Welt, oft mit dem Einsatz ihres Lebens. 

So haben wir das auch bei dem Hochwasser erlebt: Menschen standen füreinander ein, setzten ihr Leben ein, um Leben zu retten. „Die Hilfsbereitschaft war Wahnsinn!“ sagte ein Verantwortlicher der Feuerwehr. Jede/jeder half mit den Mitteln, die er hatte. Könnte, sollte, müsste das nicht auch alltäglich so sein, selbst für die weltweiten Probleme möglich werden? Nach den EU-Wahlen gleicht Europa einem von rechten Winden aufgepeitschten See. Es gilt, darin Ruhe zu bewahren, nicht den einfachen Erklärungen und Parolen zu folgen, sondern gelassen und engagiert das zu tun, was in eine friedlichere Zukunft führt. Das können wir nur, wenn wir beieinanderbleiben. 

Wer ist dieser, dass ihm Wind und Wellen gehorchen, auch der Wind und die Wellen in meinem Leben, in unserer Kirche und Gesellschaft? Wer ist dieser, der nicht von der Angst gelähmt wird? Er sitzt mit im Boot unseres Lebens. Darauf dürfen wir vertrauen und so das Leben mit all seinen Stürmen wagen.

Gebet
Unbegreiflicher Gott,
wo bleibst du inmitten aller Stürme meines Lebens,
in den Stürmen unserer Kirche und unserer Gesellschaft?
Kümmert dich nicht unsere Not und unsere Verzweiflung,
die Not und Verzweiflung so vieler Menschen, 
die Opfer werden von Ungerechtigkeit und Gewalt?

Es fällt oft so schwer zu glauben, 
dass du dennoch da bist, 
mittendrin in unserem Leben, in unserer Angst.
Schenk uns Zeichen deiner Nähe,
Menschen, die leben aus dem Vertrauen auf dich,
Menschen, die sich heraustrauen aus ihrer Angst
und neues Leben möglich machen auch für uns.

Wandle unsere Angst in Vertrauen,
unsere Ohnmacht in neuen Mut,
unsere Not in lebendige Hoffnung,
Dann werden wir das Leben wagen
mit dir.